Goraksha Shataka

 

Vers 60: Anahata Chakra - das Energiezentrum des unangeschlagenen Tones

 

Die Yogis kennen das Energiezentrum des unangeschlagenen Tones (Anahata Chakra) im Herzen, da wo ein dreifach gebundener Stier laut schallend brüllt.


    त्रिधा बद्धो वृषो यत्र रौरवीति महास्वनम् |
    अनाहतं च तच्चक्रं हृदये योगिनो विदुः || ६० ||


    tridhā baddho vṛṣo yatra rauravīti mahā-svanam |
    anāhataṃ ca tac cakraṃ hṛdaye yogino viduḥ || 60 ||

    tridha baddho vrisho yatra rauraviti maha-svanam |
    anahatam cha tach chakram hridaye yogino viduh || 60 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    tridhā : dreifach (Tridha)
    baddhaḥ : gebundener (Baddha)
    vṛṣaḥ : ein Stier (Vrisha)
    yatra : wo (Yatra)
    rauravīti : brüllt (ru)
    mahā-svanam : laut schallend (Mahasvana)
    anāhatam : des unangeschlagenen (Tones, Anahata)
    ca : aber (Cha)
    tat : (Tad)
    cakram : Energiezentrum ("Rad", Chakra)
    hṛdaye : im Herzen (Hridaya)
    yoginaḥ : die Yogis (Yogin)
    viduḥ : kennen (vid)

Anmerkung: Die Metapher des "dreifach gebundenen, laut brüllenden Stieres im Herzen" bezieht sich möglicherweise auf die in der Hatha Yoga Pradipika beschriebenen drei Phasen während der Nada Anusandhana genannten Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Anahata Nada]), nach dem das Herzchakra benannt ist. Hierbei verschließt der Yogi beide Ohren und lauscht auf die inneren Töne (Nada, Dhvani), bis der Geist (Chitta) still bzw. "unbeweglich" (Sthira) wird, und sich schließlich mit dem Verklingen aller Klänge (Shabda) im Absoluten (Brahman) auflöst (Hatha Yoga Pradipika 4.82-102).

In der ersten Phase werden innerlich sehr laute Geräusche wie das Donnern der Brandung des Ozeans (Jaladhi), der Donner von Gewitterwolken (Jimuta), oder der Klang von Kesselpauken (Bheri) oder Trommeln (Jharjhara) gehört (hierzu passt auch das laute Brüllen eines Stieres). In der mittleren Phase hört der Yogi den Klang von (kleinen) Trommeln (Mardala), Muschelhörnern (Shankha), Glocken (Ghanta) oder Hörnern (Kahala), und in der letzten Phase den leisen Klang von Glöckchen (Kinkini), Flöten (Vamshi), einer Vina oder von Bienen (Bhramara, Hatha Yoga Pradipika 4.85-86).

Diese genannten drei Phasen entsprechen wiederum den Lauten und Klängen, die im zweiten, dritten und vierten Zustand der als Avastha Chatushtaya bezeichneten vier yogischen Zustände gehört werden (Hatha Yoga Pradipika 4.73-76). Diese vier Zustände (Avastha) werden in der Hatha Yoga Pradipika im unmittelbaren Kontext der Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Anahata Nada) erwähnt, der im ersten, Arambha Avastha genannten Zustand, erstmals hörbar wird, und zunächst einem Geklingel (Kvanaka) wie von Schmuckstücken ähnelt (Hatha Yoga Pradipika 4.70). Im Verlauf der folgenden drei Phasen Ghata Avastha, Parichaya Avastha und Nishpatti Avastha ähnelt er dann jeweils den Klängen von Kesselpauken (Bheri), kleinen Trommeln (Mardala) und schließlich von Flöten- und Vinatönen (Hatha Yoga Pradipika 4.70, 73 u. 76).

Im engen Zusammenhang mit dem Durchlaufen dieser vier Zustände steht das Durchbrechen (Bheda) von drei sogenannten "Knoten" (Granthi), die als Blockaden innerhalb des Herz-, Kehl- und Stirnchakras bzw. von Anahata Chakra (Brahma Granthi), Vishuddhi Chakra (Vishnu Granthi) und Ajna Chakra (Rudra Granthi) aufgefasst werden (Hatha Yoga Pradipika 4.70, 73 u. 76). Hieraus ergibt sich ein weiterer naheliegender Bezug zu dem "dreifach gebundenen, laut brüllenden Stier im Herzen", von dem in diesem Vers des Goraksha Shataka die Rede ist: "dreifach gebunden" bezieht sich dann auf die drei Knoten bzw. Granthis, die im Prozess der Meditationspraxis auf den unangeschlagenen Ton nacheinander aufglöst werden, was mit einer veränderten Klangqualität und Lautstärke der im Inneren der Sushumna (vgl. Hatha Yoga Pradipika 4.68) gehörten Klänge einhergeht.